- Physiknobelpreis 1975: Aage Bohr — Ben Mottelson — Leo James Rainwater
- Physiknobelpreis 1975: Aage Bohr — Ben Mottelson — Leo James RainwaterDie Dänen Bohr und Mottelson und ihr amerikanischer Forscherkollege Rainwater erhielten den Nobelpreis für die Entdeckung der Verbindung zwischen kollektiver und Teilchenbewegung in Atomkernen und der darauf basierenden Entwicklung der Strukturtheorie der Atomkerne.BiografienAage Bohr, * Kopenhagen 19. 6. 1922; ab 1956 Professor für Physik in Kopenhagen; Schüler, Assistent und Sekretär seines Vaters Niels Bohr.Ben Mottelson, * Chicago 9. 7. 1926; ab 1951 Forschungsstipendiat, 1957 Professor in Kopenhagen; intensive Zusammenarbeit mit Aage Bohr, seit 1971 dänischer Staatsbürger.Leo James Rainwater, * Council (Idaho) 9. 12. 1917, ✝ New York 30.5.1986; ab 1947 Lehrtätigkeit an der Columbia University in New York, ab 1952 dort Professor für Physik.Würdigung der preisgekrönten LeistungDie Vorgänge im Atomkern, vor allem die Kernspaltung und die radioaktive Strahlung aus dem Kern, ließen sich mit den im Jahr 1950 bekannten Modellen nicht erklären. Den drei Physikern gelang es, theoretisch und experimentell die beiden wichtigsten Modellvorstellungen zum Kollektivmodell zu vereinen.Schalenmodell und Tröpfchenmodell1932 stellten Werner Heisenberg (Nobelpreis 1932) und Igor Jewgenjewitsch Tamm (Nobelpreis 1958) eine Theorie des Atomkerns auf der Grundlage von Proton und Neutron auf. Die wichtigste Schlussfolgerung daraus war der so genannte Massendefekt. Der Massendefekt entspricht der Bindungsenergie zwischen den Teilchen eines Kerns. Ein Kern kann nur stabil sein, wenn die Masse der Protonen und Neutronen im Kernverbund kleiner ist als ihre Gesamtmasse als freie Teilchen. Beim Aufbau eines Atomkerns wird die überschüssige Masse als Strahlungsenergie oder als kinetische Energie entsprechend der Masse-Energie-Äquivalenz (E = m · c2) freigesetzt.Den theoretischen Physikern wurde nur sehr langsam bewusst, dass zwischen dem Massendefekt und der Bindungsenergie ein Zusammenhang besteht. Die Untersuchung und das Verständnis des Atomkerns sind weit schwieriger als die der Atomhülle. Und so orientierten sich die ersten Modelle am Aufbau der Atomhülle. 1934 entwickelte der deutsch-amerikanische Physiker Walter Maurice Elsasser das Schalenmodell, indem er die Nukleonen unter Berücksichtigung des nach Wolfgang Pauli (Nobelpreis 1945) benannten Pauli-Prinzips verschiedenen Energieniveaus zuordnete. Nach dieser quantenmechanischen Vorstellung sollten Atomkerne mit voll besetzten Nukleonenschalen besonders stabil sein. Doch gerade diese Atomkerne folgen nicht dem Modell.Die als magisch bezeichneten Nukleonenzahlen der stabilsten Kerne sind: 2, 8, 20, 50, 82 und theoretisch 126. Das Schalenmodell ist aber irreführend, da die Neutronen- und Protonenschalen des Atomkerns sich gegenseitig durchdringen. Jede Schale nimmt das gesamte Kernvolumen ein. Diesen Mangel an geometrischer Unterscheidbarkeit behoben die Physiker Maria Goeppert-Mayer und Hans Daniel Jensen (beide Nobelpreis 1963). Ihnen gelang es, ein vollständiges System von Atomkernschalen zu konstruieren.Der amerikanische Physiker George Anthony Gamow schlug in den 1930er-Jahren das Tröpfchenmodell vor. Er stellte sich eine nukleare Flüssigkeit vor, die einem Wassertropfen ähnliche Eigenschaften aufweist. Wie der Regentropfen besteht sein Kerntropfen aus einer inkompressiblen, wirbel- und reibungsfreien Flüssigkeit aus Nukleonen (Protonen und Neutronen). Die Oberflächenspannung der äußeren Nukleonen reduziert die Oberfläche auf ein Minimum und sorgt für die Kugelgestalt. Vibrationen und Rotationen sollten bei angeregten Atomkernen für das Aussenden von Gammastrahlen sorgen. Der amerikanische Physiker John Archibald Wheeler arbeitete in diese Theorie die Coulomb'schen Kräfte, die abstoßenden elektrischen Ladungen der Protonen, ein. Seine Tröpfchen flachten deshalb zu »Krapfen« ab.Niels Bohr (Nobelpreis 1922) hatte 1936 im Wesentlichen auf das Tröpfchenmodell zurückgegriffen, als er seine Sandsacktheorie der zusammengesetzten oder Compound-Kerne formulierte, um den zweistufigen Kernspaltungsprozess zu beschreiben. Demnach tritt das Geschoss, ein Proton oder Neutron, in den Atomkern ein und überträgt seine gesamte Energie gleichmäßig auf alle Nukleonen. Dieses Geschoss wird integraler Bestandteil des stark angeregten Compound-Kerns, der in der zweiten Phase die gesamte Anregungsenergie auf ein einzelnes Teilchen überträgt, das dann den Kern verlässt. Der zurückgebliebene Kern zerfällt anschließend in zwei neue Elemente. Das Modell konnte nur Kernreaktionen mit Geschossen relativ niederer Energie beschreiben.Kernspaltung und KernbindungTröpfchen- und Schalenmodell standen lange Zeit nebeneinander. Form und innere Struktur der Kerne wurden in der Folgezeit durch Streuexperimente mit hochenergetischen Teilchen analysiert. Es fanden sich Kerne, die durch die ungleiche Verteilung der Ladungen starke Deformationen der Kugelsymmetrie bis hin zum Elipsoid aufwiesen. James Rainwater in New York war der erste, der eine Lösung präsentierte. Begeistert von den Arbeiten des Deutschen Carl Friedrich von Weizsäcker über die Kernbindungskräfte und von der Publikation von Niels Bohr und Wheeler über die Kernspaltung wandte er sich diesem Gebiet zu. Seine im April 1950 veröffentlichten Forschungen ergaben ein Wechselspiel zwischen zwei Teilen eines Kerns. Der größere Teil der Nukleonen formt einen inneren Kern, der kleinere Teil einen äußeren aus Valenz- oder Leuchtnukleonen. Er stellte die Hypothese auf, dass die Leuchtnukleonen die Form des inneren Kerns beeinflussen würden. Bewegen sich die Leuchtnukleonen in einem Feld, das durch die Verteilung der inneren Nukleonen bestimmt wird, sollten sie sich wechselseitig beeinflussen. Bewegen sich einige Nukleonen in ähnlichen Bahnen, kann der polarisierende Effekt auf den restlichen Kern so groß sein, dass er sich permanent verformt. Vereinfacht ausgedrückt, pressen die rotierenden Nukleonen die hypothetische »Wand« des Kerns auseinander.Einen Monat nach Rainwater veröffentlichte Bohr seine Ideen. Er stellte sich die Kerne zigarrenförmig vor. Bereits ein Jahr später beschrieb er detailliert den Zusammenhang zwischen der Oberflächenschwingung und der Bewegung einzelner Nukleonen im Kern. Er sagte zwei Arten der kollektiven Erregung voraus: Die Kerne vibrieren, angeregt durch einen periodischen Wechsel der Kernform, um einen Mittelwert, und der gesamte Kern rotiert um die Symmetrieachse. In den Folgejahren bewies er gemeinsam mit Mottelson seine Theorie experimentell. Ihre spektakulärste Entdeckung war die Erkenntnis, dass sich die Positionen der Energieniveaus bestimmter Kerne mit einem Rotationsspektrum erklären lassen. Theorie und Experiment stimmten bei Bohr und Mottelson so exakt überein, dass kein Zweifel an der Richtigkeit mehr aufkommen konnte.U. Schulte
Universal-Lexikon. 2012.